Traue dich, o Freikirchentum!
„Oh nein, eine Kolumne von Rezo zu den Kirchen… und das, obwohl ich doch gerade den Weihnachtsgottesdienst vorbereiten wollte.“
Ich lese die Kolumne so durch, wie ich das in den meisten dieser Fälle tue: leicht zusammengekniffene Augen an, Kopf leicht abgedreht, verzogenes Gesicht. Meistens lassen sie ja kein gutes Urteil an der christlichen Gemeinschaft zu, sondern weisen auf Verfehlungen der Gegenwart oder Vergangenheit hin. Oftmals zu Recht, manchmal aber auch recht einseitig und plakativ. In all diesen Artikeln nun also die Kolumne von Rezo zu lesen, tat meinem kirchen-liebenden Herz unerwartet gut.
Ich bin wohl nicht die Einzige, die zweimal hingeschaut habe, als ich sah, dass Rezo, ein deutscher Musiker und YouTuber, der besonders durch sein Video „Die Zerstörung der CDU“ im Sommer 2019 in den allgemeinen Interessensfokus gerückt ist, in der ZEIT ONLINE über die Kirchen schrieb. Und zwar positiv!
Und dann schreibt er auch noch zum Klimawandel – Hurrah! Und dass die deutschen Grosskirchen für ihre Klimapolitik und klaren Stellungnahmen gelobt werden sollten – grossartig!
Trotzdem regt sich in mir ein leichter Widerstand, denn so ganz kann ich die lobenden Worte, die Rezo für die deutschen Grosskirchen übrig hat, nicht einfach auf meinen freikirchlichen Kontext anwenden, denn: Könnte das gleiche wirklich auch von Schweizer Kirchen (Landes- und Freikirchen) gesagt werden? Nun ja, sagen wir mal: es ist kompliziert…
Vom Schweizerisch-Evangelischen Kirchenbund (der bald einen anderen Namen tragen wird, aber das wäre nun wirklich ein Blogeintrag für sich) gibt es mehrere Stellungnahmen, sei es zum CO2-Gesetz, über das 2009 abgestimmt wurde oder eine Stellungnahme zur Klimakonferenz in Paris. Daneben wurde vielerorts auf die Aktion «fünf vor Zwölf» des Hilfswerk oeku hingewiesen. Allgemein macht die oeku (ein ökumenisches Gremium unter Unterstützung diverses evangelisch-reformierter Kirchen, der katholischen Kirche und des SEK) seit 30 Jahren eine Aufklärungs- und Bildungsarbeit im Bereich Umwelt und Kirche. Auf der Website heisst es auch, sie seien von diversen Freikirchen unterstützt, ob dies einfach die freikirchlichen Mitglieder des SEK sind oder darüber hinaus noch weitere, habe ich so auf die Schnelle nicht rausgefunden.
Bei Freikirchen allerdings sucht man oft vergebens. Nicht nur nach dem Thema Klima oder Ökologie, sondern allgemein werden theologisch-ethische Themen kaum angesprochen. Warum?
Könnte es vielleicht etwas damit zu tun haben, dass wir denken, dass es uns für Nicht-Christen und Aussenstehende besonders attraktiv macht, wenn wir coole, zeitgemässe Gottesdienste haben? Kurse für den eigenen Glauben oder unsere Ehen? Coole „Activities“ für die junge Generation? Oder reduzieren wir uns als Kirche, indem wir uns selber auf diese Angebote reduzieren, nicht selbst auf etwas, was wir eigentlich gar nicht sein wollen; ein Verein unter vielen, der Ablenkung von der eigentlichen Welt und ihrem Leiden möglich macht, wenn man sich den Terminkalender nur voll genug mit Angeboten stopft.
Und Menschen sind ja grundsätzlich sehr gut darin, sich ablenken zu lassen. Wir können durch unser Leben gehen und gewisse Belange ausblenden oder ignorieren, damit wir unseren Alltag einigermassen regeln können. Die kanadische Journalistin Naomi Klein schreibt dazu:
„In normalen Zeiten, wenn kein Notstand herrscht, sind die Fähigkeiten des menschlichen Geistes, Rechtfertigungen zu suchen, Dinge auszublenden und sich ablenken zu lassen, extrem wichtig. Diese drei Mechanismen helfen uns, durch den Tag zu kommen. […] Im Hinblick auf den realen Klimazusammenbruch führen diese Eigenschaften jedoch zu unserem kollektiven Untergang. Sie beruhigen uns, wo wir keineswegs beunruhigt sein sollten. Sie lenken uns ab, wo wir uns auf die Sache konzentrieren sollten. Und sie beschwichtigen unser Gewissen, wo es Alarm schlagen sollte.“
Naomi Klein, Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann, S. 24
Dabei könnte ich mir vorstellen, dass die aktuellen Teilnehmerzahlen an Märschen und Streiks (sei es der Klimastreik, der Frauenstreik oder die Kundgebungen gegen die militärischen Einsätze in Rojava) auch darauf hinweisen könnten, dass die Menschen langsam aber sicher genug von der Ablenkungstaktik haben – in ihrem Alltag, in der Politik und vielleicht auch in ihrem Glauben. Menschen suchen nach etwas, was ihrem Leben Halt gibt in diesen turbulenten Zeiten, ohne dass sie die Augen davon abwenden müssen. Könnte es nicht gerade eine Aufgabe der Kirche sein, den Blick auf diese Welt zu schärfen, anstatt wegzuschauen, wie es so viele andere tun?
Ich glaube nicht, dass es der Auftrag der Kirche ist, ein Wohlfühl-Evangelium zu predigen, mit dem wir Sonntagmorgens unser Gewissen beruhigen können und Angebote zu schaffen, die uns eine schöne Ablenkung von den Problemen dieser Welt versprechen. So wie zu viel Ablenkung und ein zu schnelles Ablenken lassen, zu einem kollektiven Untergang in Zeiten der Klimakrise führen kann, kann es in Kirchen dazu führen, unsere Stimmen vollends zu verlieren. Im Leben unserer Mitglieder und zum jetzigen Zeitpunkt der Weltgeschichte.
Ich wünsche mir eine Kirche (Freikirche, Landeskirche, whatever floats your boat…), die sich traut, genau hinzusehen und die Welt nicht als einen Ort zu betrachten, den wir zu ertragen und überleben haben, damit wir schlussendlich an einen besseren Ort dürfen. Ich wünsche mir eine Kirche, die auf Leiden in der Gesellschaft aufmerksam macht, die Wahrheit spricht und sich mit den Unterdrückten dieser Gesellschaft solidarisiert. Ich wünsche mir eine Kirche, die Gottesdienst als Einsatz in der Welt versteht und nicht als Flucht davon.
Ich wünsche mir eine Kirche in der Art, wie sie auch Rezo gezeichnet hat, als er schrieb:
„Vielleicht liegt genau hier die mögliche Stärke – eine richtige Ansprache zu finden, sich durch Handeln Glaubwürdigkeit zu verdienen und an der Kirchentür, wo der Grat zwischen klaren Ansagen und allgemeiner Offenheit besonders schmal ist, mit Menschen zu sprechen, die für andere lange verloren sind und vom Fridays-for-Future-Demoflyer nicht abgeholt werden. Nicht auf der Suche nach faulen „Wir haben beide ein bisschen Recht“-Kompromissen, aber in diesem sanften „Ich hab dich gern, aber ist halt Quatsch, was du sagst“-Tonfall.“
Rezo, in der ZEIT ONLINE