Wut ist eine spirituelle Praxis

entstanden am Vorabend des Feministischen Streiktages 2023


„Sei mal nicht so emotional.“

„Andere haben es noch schlimmer.“

„Kein Grund, jetzt so überzureagieren.“

„Diese Emotionen sind jetzt nicht hilfreich, wir wollen ja konstruktiv bleiben.“

Wenn dir diese Sätze bekannt vorkommen, dann bist du wahrscheinlich als Frau in einer patriarchalen Welt aufgewachsen. Und somit hast du auch früh gelernt, deine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Denn so tut „man“ das eben. Schliesslich wollen wir uns von unserem Verstand leiten lassen und nicht von unseren Gefühlen.

Emotionen haben allgemein einen schlechten Ruf in unserer Gesellschaft. Sie werden als das Unkontrollierte, das Ungezügelte, Überbordende angeschaut, das im Gegensatz zu einem konstruktiven, ruhigen, vom Kopf her geführten Gespräch steht. Und Wut? Wut geht gar nicht. Vor allem nicht für Frauen, erst gar nicht für schwarze Frauen.1

Denn frau muss gemocht werden. Von der Umgebung, der Familie, vor allem aber den Männern. Und Wut passt da nicht rein. Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie beschreibt eine Beobachtung über ihre Freundinnen, die mit dieser Abwertung der Emotionen aufgewachsen sind, folgendermassen:

„What struck me (…) is how invested they are in being ‚liked‘. How they have been raised to believe that their being likeable is very important and that this ‚likeable‘ trait is a specific thing. And that specific thing does not include showing anger or being aggressive or disagreeing too loudly.“

Chimamanda Ngozi Adichie, We should all be Feminists, S. 23f.

In unserem Alltag sind wir männliche Wut gewöhnt. Dafür muss nur ein Sportspiel besucht werden. Weibliche Wut hingegen ist etwas, was Mädchen früh ab-trainiert wird. Denn Mädchen soll „man“ schliesslich mögen. Und da ist Wut unangemessen, überhaupt sollte man nicht zu laut, zu fordernd, zu selbstbewusst sein. Wir sollen unsere Wut in uns behalten und sie nicht nach aussen tragen. In all dem geht aber verloren, dass Wut uns Frauen aber auch immer wieder auf etwas Wichtiges hinweisen kann: auf die Erfahrung oder Entdeckung einer Ungerechtigkeit. Wut ist die angemessene Reaktion auf Ungerechtigkeit. Was denn sonst? Sollte es uns etwa egal sein?

Ja, eigentlich schon. Das wäre angenehmer. Bräuchte weniger Anpassung der patriarchalen Welt. Ich meine, stell dir das mal vor: alle Frauen in der Schweiz stehen auf und geben ihrer Wut Ausdruck. Die Wut darüber, Haupt-Trägerinnen der Care-Arbeit in unserem Land zu sein, schlecht bezahlt zu werden, ständig in Angst vor Grenzverletzungen zu leben und medizinisch unterversorgt zu sein. Diese Vorstellung macht vielen Angst, denn es würde nicht bei der Wut bleiben, denn das ist schliesslich auch nicht das Ziel. Aber in der Wut entsteht Klarheit und Klarheit bedeutet klare Forderungen. Und Forderungen ziehen Handlungen nach sich, früher oder später.

Was uns aktuell stattdessen als Alternative zur Wut als Reaktion auf Ungerechtigkeit angeboten wird, ist Scham. Vor allem dort, wo es um Grenzverletzungen geht. Die Journalistin Anna Dreussi schrieb im Republik-Artikel „Wut ist weiblich“:

„Was bedeutet es, einen weiblichen Körper zu haben? Die Wut findet keinen Platz hier zwischen meiner sanften Stimme und meinen geröteten Wangen und meinen zarten Glied­massen und meinem Wimpern­aufschlag wie aus einer Parfüm­werbung. Ich bin eine Frau. Wir werden vergewaltigt und begrabscht und getötet und geschlagen und klein­gehalten. Und am schlimmsten: Uns wird die Möglichkeit genommen, mit Wut darauf zu reagieren. Was uns bleibt, ist das Schämen.“

Anna Dreussi, Wut ist weiblich, https://www.republik.ch/2023/04/24/wut-ist-weiblich

Scham ist Wut, die sich nach innen wendet.

Wäre es nicht gerade die Aufgabe der Theologie, diese Scham zu durchbrechen und Frauen eine Ressource an die Hand zu geben, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen?

Ich glaube, dass wir als Frauen Wut wieder lernen müssen. Und ich glaube, dass dies eine Form der spirituellen Praxis werden kann, im Sinne von: ich (an-)erkenne meinen Selbstwert und darin erkenne ich etwas über das Wesen Gottes und kann mit Gott und anderen in Beziehung treten. Denn Spiritualität ist ein Beziehungsgeschehen. Es setzt mich in Beziehung mit Gott, die mich geschaffen und für gut befunden hat, mich als wertvoll betrachtet und mich in Beziehung setzt mit meinem Schwestern auf der ganzen Welt, damit ich ihnen ebenso diesen Wert zugestehen und dafür einstehen kann. Wenn Gott in erster Linie Liebe ist (1. Johannes 4, 16), dann ist Gott auch Gerechtigkeit. So geht auch die feministische Autorin bell hooks in ihrem Buch „Alles über Liebe“ auf die Wichtigkeit von Gerechtigkeit in der Liebe ein, denn „Liebe ist das, was Liebe tut“2. Wäre es also nicht auch gerade die Aufgabe der Theologie, Frauen einen Zugang zu Gott zu ermöglichen, der nicht unterdrückt und beschämt, sondern sie befreit und wütend sein lässt und mit ihnen gemeinsam schreit? Dorothee Sölle hat dies so beschrieben:

„Es ist eine andere Art, mit dem Schmerz umzugehen: Unsere Schmerzen werden Gottes Schmerzen, Gottes Schmerz – über die erstickten Mädchen und die zu Topde getesteten Mitgeschöpfe- wird unser Schmerz. (…) Gott ist nicht oben, sondern in den Leidenden, mit ihnen.“

Dorothee Sölle, in: „einfach unverschämt zuversichtlich“, S. 117.

Und wie sieht das konkret aus? 3 Erlebnisse:

  • Winter, eine Hütte in den Bündner Alpen, spätabends: In einer Gesprächsrunde aus Frauen kommen wir auf die Frage zu sprechen, was wir an der Welt ändern würden, wenn wir denn könnten. Eine Freundin kündigt einen „Rant“ an und was folgt ist ein stündiges Gespräch über fehlende Gleichberechtigung, Grenzverletzungen, Unsicherheiten, verwehrte Möglichkeiten und den Schlüsselbund, den wir nachts auf dem Nach Hause-Weg in der Hand halten. Von aussen mochte es destruktiv wirken, wie wir uns gegenseitig ein Erlebenis nach dem anderen schilderten, innerlich hat es sich nach dem Gegenteil angefühlt: produktiv, erleichternd, verbindend. Worte haben Macht. Ranten auch.
  • Frühling, Wald, nachmittags: zusammen mit drei Personen stehe ich da und schreie. Am Morgen habe ich dem Doku-Team im Interview erzählt, wie wichtig ich es finde, dass in unserer Spiritualität alle Emotionen Platz haben sollen. Auch Wut. Man könnte ja zum Beispiel in den Wald schreien gehen. Ob wir das ausprobieren können, fragt eine aus der Gruppe. Also packen wir unsere Sachen und machen uns auf den Weg. Bevor wir schreien, erzählen wir uns gegenseitig von wir Dinge, die uns wütend machen. Und dann schreien wir. Und lassen unserer Wut freien Lauf.
  • Sommer, eine Berner Kirche, am Vorabend zum Feministischen Streiktag: Preachers und Poets messen sich gegenseitig und tragen Poetry Slams zum Thema „Streik!“ vor. Darin kommt sie immer wieder hervo: die Wut. In Bildern, wie jenes der Glut, die von Generation zu Generation weitergetragen wird und auch von noch so tollen Feuerwehrmännern nicht ausgelöscht werden kann. Oder dem Rudel voll Wölfen im Bauch, das sich langsam an die Oberfläche kämpft. Oder im Schlüsselbund, den wir endlich in der Tasche lassen wollen. Und sie ist spürbar in den Stimmen, den Erzählungen. Worte haben Macht. Wut teilen auch.

Und weil es so schön ist, hier nochmals Dorothee Sölle:

„Wir sind in der Tat eins miteinander, jede Trennung, jede Apartheid leugnet die Mutter und mit ihr die Lebendigkeit des Lebens. Leben, das sich schmerzlos und leidensfrei bewahren will, kapselt sich ein und stirbt den spirituellen Tod der Beziehungslosigkeit. Dann schon lieber mit Gott weinen, als ohne sie in Vergleichgültigung zu versteinern.“

Dorothee Sölle, in: „einfach unverschämt zuversichtlich“, S. 120.

Morgen werde ich mit Gott schreien.

Gegen die Scham, gegen Ungerechtigkeit, gegen die Gleichgültigkeit.

Schreist du mit?


1 https://en.wikipedia.org/wiki/Angry_black_woman

3 bell hooks, Alles über Liebe, S. 68.

Beitragsbild: Simran Sood, unsplash.com

Hinterlasse einen Kommentar